Kopfverletzungen: Vorbeugen statt verbieten
Die Nachricht sorgte bereits im November 2015 für helle Aufregung: In den USA wurde im Jugendfußball das Kopfballspiel verboten. Der Grund: mögliche Folgen durch ein Schädel-Hirn-Trauma. Die Argumentation klingt zunächst einleuchtend, denn häufig etwas vor den Kopf zu bekommen, ist nicht gerade gesundheitsfördernd. Seitdem flammt die Diskussion immer wieder neu auf. Deshalb lohnt es sich, einen Experten zum Thema und dem aktuellen Sachstand zu befragen.
Prof. Dr. Werner Krutsch ist ehemaliger Fußballspieler, in der Medizinischen Kommission des DFB tätig, läuft als Mannschaftsarzt beim 1. FC Nürnberg aufs Feld und ist somit auch einer derjenigen, die das nötige medizinische Fachwissen und die Spezialkenntnisse aus dem praktischen Fußball in einer Person vereinen. Zum Auftakt der Themenwoche Kopfverletzungen spricht Krutsch im FUSSBALL.DE -Interview darüber.
Herr Professor Krutsch, Langzeitschäden durch Schädel-Hirn-Trauma und die Kopfbälle im Fußball, was ist dran?
Prof. Dr. Werner Krutsch: Die Langzeitschäden nach einem Schädel-Hirn-Trauma sind ein wichtiges Thema im Sport und die Vorbeugung von Langzeitschäden durch adäquate Diagnose einer Gehirnerschütterung sowie der sicheren Rückkehr nach Ausheilung der Kopfverletzung sind sehr wichtige Themen in der Sportlerbetreuung, auch im Fußball. Gerade die Sportarten mit den häufigen und schweren Schädelhirntraumata wie American Football oder Eishockey haben dieses Thema wissenschaftlich gut untersucht und auch wir im Fußball versuchen mit verschiedenen Strategien das Thema der Schädel-Hirn-Trauma so optimal wie möglich zu behandeln. Das Thema der Kopfbälle ist wiederum ein völlig anderes als Schädel-Hirn-Trauma, aber da Kopfbälle nur im Fußball auftreten, müssen sie auch speziell und getrennt im Fußball betrachtet werden.
"Je fester der Schlag und je häufiger ein intensiver Schlag auf den Kopf vorkommt, desto stärker auch die Folgen auf das Gehirn"
Wie kamen denn die Entscheidungsträger in den USA auf solch einen Entschluss Kopfbälle unterhalb des 15. Lebensjahres zu verbieten?
Krutsch: Zuerst einmal sei vermerkt, dass die Entscheidung des US-Fußball-Verbandes aus dem Jahre 2015 nicht auf wissenschaftlichen Fakten basierte, sondern im Rahmen der großen medialen Welle an demenzerkrankten Ex-Sportler aus dem American Football entstand. Die Schadensersatzforderungen in Hunderte Millionenhöhe waren ein Grund warum diese Vorsichtsmaßnahme durch den US-Fußballverbandes entschieden wurde. Mir ist als Konsequenz aus dem Kopfballverbot im US-Fußball vor fast zehn Jahren seitdem keine Studie bekannt, welche für die USA aufzeigen konnte, dass dieses Kopfballverbot einen relevanten positiven Effekt auf die genannte Diskussion hat oder dass Kopfverletzungen nun wirklich dadurch verhindert werden. Wir haben in Deutschland ganz im Gegenteil sogar gerade von den großen Studienzentren wie die an den Universitäten von Saarbrücken, Paderborn oder Regensburg sehr gute fußballmedizinische Daten aus dem deutschen Juniorenfußball und diese zeigen für uns ein deutliches Bild, dass ein reines Kopfballverbot das Problem um Kopfverletzungen bei Kindern nicht löst.
Das heißt?
Krutsch: Im deutschen Kinderfußball auf dem Großfeld und noch mehr auf dem Kleinfeld sehen wir mit durchschnittlich null bis zwei Kopfbällen pro Spiel kaum oder keine Kopfballsituationen, welche für Hirnschäden verantwortlich sein können. Vielmehr treten Kopfverletzungen als Folge von Kollisionen mit dem Mit- und Gegenspieler auf oder auch bei Stürzen zu Boden. Die Studien zeigen, dass in diesem Alter Kopfverletzungen auch großteils unabhängig von Kopfballsituationen auftreten, so dass ein reines Kopfballverbot hier den Kern kaum trifft. Das Problem bei den Langzeitfolgen von Kopfverletzungen ist nach jetzigem Stand der Erkenntnisse nicht der luftgefüllte Lederball beim Kopfball an sich, sondern es sind wiederholte starke Schläge auf den Kopf oder harte Traumata wie Kopf an Kopf oder Ellenbogen gegen Kopf.
Und was bedeutet dies nun für unseren Fußball in Deutschland?
Krutsch: Der entscheidende Faktor bei einem Schädel-Hirn-Trauma ist die Intensität der Kopftreffer, dann kommt die Häufigkeit intensiver Schläge dazu. Kurz gesagt: Je fester der Schlag und je häufiger ein intensiver Schlag auf den Kopf vorkommt, desto stärker auch die Folgen auf das Gehirn. Das passiert beim Eishockey oder noch viel extremer beim American Football in hohem Maße, beim Fußball deutlich weniger, sowohl an Intensität als auch in der Häufigkeit. Trotzdem müssen und wollen wir im Fußball gerade Schädel-Hirn-Verletzungen vorbeugen, und das kann für Junioren und Erwachsene unterschiedlich aufgebaut sein. Der DFB hat hierzu in einer Arbeitsgruppe zwischen Medizinern, Trainern und anderen Experten verschiedene Empfehlungen für die Prävention von Kopfverletzungen und zusätzlich auch für das Kopfballspiel zusammengefasst, die zumindest mögliche Gefahren für Kopfverletzungen in Kopfballsituationen nochmals reduzieren sollen.
Wie könnte da erreicht werden?
Krutsch: Hierzu gehören neben einem Flachpassspiel und Kleinfeldspielformen auch die Verwendung von an Gewicht und Größe angepassten Ballgrößen. Zusätzlich kommen gerade auch für den Erwachsenenfußball die Einführung von Änderungen im Regelwerk, wo Ellenbogenchecks besonders scharf geahndet werden und welches auch wissenschaftlich mit sehr positiven Effekt für die Reduzierung an Kopfverletzungen erforscht werden konnte. Als wichtigster Mehrwert für die Vorbeugung von Langzeitschäden nach Kopfverletzungen ist eine möglichst schnelle und akkurate Diagnose einer Gehirnerschütterung und das Wissen, bei welchen Symptomen man auf keinen Fall mehr weiterspielen darf.
Aber Hand aufs Herz: Wer Fußball spielt oder gespielt hat, kennt doch die Situation, dass nach dem Kopfballtraining oder einer scharfen Flanke auch mal der Schädel brummt.
Krutsch: Das gibt es schon, kenne ich selbst auch, ist aber sehr selten. Unsere Studien zeigen, dass solche Situationen im Spiel besonders Innenverteidiger haben, die regelmäßig lang fliegende und hochgeschlagene Bälle mit dem Kopf wieder weiter aus deren Zone rausbefördern wollen. Ansonsten sprechen wir bei erwachsenen Fußballern von fünf bis sieben Kopfbällen pro Spiel, selten mehr. Allerdings sind diese kontrollierten Kopfbälle mit gut gelernter Technik des Kopfballs, gut trainierten Wirbelsäulenmuskulatur und erwarteter Körperspannung weniger das Problem für den Spieler. Höhere Relevanz haben Schädel-Hirn-Trauma als ein plötzlich auftretender unerwarteter Schlag auf den Kopf in einem Zweikampf oder bei einem Sturz. Neben der niedrigen Rate an Kopfbällen pro Spiel sollten Kopfbälle im Training mit moderater Dosis trainiert werden und hier ein bestimmtes Limit nicht überschritten und auf wenige Kopfbälle pro Einheit definiert werden. Bei einem aufgetretenen Schädel-Hirn-Trauma wissen wir aus der Forschung zusätzlich, dass die große Gefahr für langfristige Hirnschäden der sogenannte "Second Hit" ist, also ein zweiter Schlag in der vulnerablen Heilungsphase des Gehirns kurz nach einer ersten Kopfverletzung. Aus diesem Grund sollte bei Gehirnerschütterungen auch eine sofortige Pause eingelegt werden und mit einem standardisierten "Return to play"-Protokoll dann der Wiedereinstieg in den Wettkampf sicher und nicht zu früh aufgenommen werden.
Also alles geklärt in der Diskussion um den Kopfball?
Krutsch: Nein, beendet ist die Diskussion noch nicht, aber in den Bestrebungen auf wissenschaftliche Nachweise zum Thema sind wir recht weit. Die Sache ist aber, dass man nicht immer erst fundierte medizinische Datensätze braucht, um logische Entscheidungen zu treffen und um dann Umsetzungen von Präventionsmaßnahmen auf dem Fußballplatz zu verwirklichen. Wichtig ist es, dass das erhaltene Wissen aus Medizin und Forschung an die Fußballbasis zu transportieren - und da helfen Interviews wie diese, aber auch allgemeine Artikel auf FUSSBALL.DE sehr gut. Im Profifußball gibt es hierzu sogar ein standardisiertes Protokoll von DFL und DFB, welches in jeder Saison Teamarzt, Cheftrainer und Sportvorstand in jedem Verein unterschreiben müssen.
Sollte der Kopfball im Jugendalter abgeschafft werden?
Krutsch: Wenn man das Thema mal von rein praktischer Seite betrachtet, macht es wenig Sinn, einen integralen Bestandteil des Fußballs wie das Kopfballspiel komplett bis zum Alter von 15 Jahren abzuschaffen, wenn man danach trotzdem anfängt Kopfbälle zu spielen. Hier würde dann sowohl die Kopfballtechnik, das Stellungsspiel, die notwendige Muskulatur an Halswirbelsäule und Rumpf und vieles andere fehlen. Besser ist es, adaptiert an die biologischen Wachstumsphasen der Kinder das Kopfballspiel mit Kleinfeldfußball etc. so selten wie möglich zu machen - und wenn es auf Großfeld dann mehr Sinn macht, dies dann mit leichteren Bällen, bestimmten Limits in den Kopfball-Anzahlen im Training und konsequenten Regeln im Zweikämpfen zu belegen.
Wie wird es in Zukunft in der Thematik aussehen?
Krutsch: Kopfbälle müssen nicht abgeschafft werden, Kopfverletzungen sollten aber möglichst schon vorgebeugt werden. Da im Sport nicht alle Verletzungen auf Null reduziert werden können, müssen neben der reinen Prävention von Kopfverletzungen auch die Frühdiagnostik und Erstversorgung von Kopfverletzungen möglichst optimiert werden. Hier schulen wir beim DFB bei Fortbildungen die Physiotherapeuten und Mannschaftsärzte für die wichtigsten Symptome einer Gehirnerschütterung, wonach es im Fußball "Stopp" heißen sollte